Dass der Lippenmuskel bei Bläserinnen, Sängerinnen und Sprecherinnen eine signifikant höhere Spannkraft aufweist als bei der Vergleichsgruppe, konnte durch meine Studie im Rahmen der Masterarbeit bewiesen werden. Dieser Muskel hat aber nur eine Teilfunktion im myofunktionellen Zusammenspiel.
In der logopädischen Literatur wurde bisher das myofunktionelle Training als notwendig für den physiologischen Schluckvorgang beschrieben, und weiterführend für die korrekte Artikulation. Renate Clausnitzer (2006, S. 61) nimmt bei einer Störung des myofunktionellen Gleichgewichts zusätzlich die Auswirkungen auf die Gesamtkörperhaltung und die psychische Befindlichkeit in ihren Blickwinkel. In logopädischer Fachliteratur gibt es jedoch kein spezielles Kapitel über die Auswirkungen bei Bläserinnen, Schauspielerinnen oder Sängerinnen. In Gesundheitsbüchern für Musikerinnen wiederum findet sich z. B. bei Skarabis (2005, S. 39) der Hinweis auf myofunktionelles Training, aber keine Anleitung für die Durchführung der Übungen. Skarabis erkennt zwar den Zusammenhang zwischen Halswirbelsäule, Kehlkopf, Zunge und Kiefergelenk, vergisst dabei aber den korrekten Mundschluss und die Fähigkeit, bestimmte mundmotorische Bewegungen durchführen zu können, bzw. achtet nicht auf ein myofunktionelles Gleichgewicht. Als Ärztin und Betreuerin der Berliner Philharmoniker schreibt sie: „Die Feinabstimmung des Bewegungsablaufs von Lippen, Zunge und Kiefergelenk muss bei Bläser[inne]n perfekt funktionieren, da sich andernfalls sofort klangliche Probleme einstellen können” (Skarabis 2005, S. 96). Diese Aussage könnte nun derart interpretiert werden, dass sie das Zusammenspiel aller Muskeln im Körper außer Acht lässt. Dem ist jedoch nicht so, da sie in ihrem Buch auf positive Ergebnisse in der Heilung auf Grund der Zusammenarbeit verschiedener Therapien hinweist, zu denen sie Osteopathie, Physiotherapie, Akupunktur, Haltungsschulung, Entspannungstechniken, senso- motorische Schulung und Akupressur zählt. Bedauernswert ist, dass sie Atemtherapie und Logopädie nur für Bläserinnen empfiehlt (Skarabis 2005, S. 39). Sängerinnen, bei denen sehr häufig eine myofunktionelle Störung anzutreffen ist, die in Folge eine Stimmstörung auslösen kann, nimmt sie in ihrer Auswahl nicht auf.
In den nächsten Tagen werde ich ein Trainingskonzept für Bläserinnen, Sängerinnen und Schauspielerinnen vorstellen, das selbstverständlich auch von anderen Musikerinnen und selbst Nichtmusikerinnen erlernt werden kann.