Zunächst ist es informativ zu wissen, was überhaupt unter einer myofunktionellen Störung zu verstehen ist. „Myos” kommt aus dem Griechischen und bedeutet Muskel – es handelt sich hierbei um eine Störung der Muskulatur, genauer formuliert, „der Tonus der extra- und intraoralen Muskulatur [ist] gestört“ (Böhme 1 2003, S. 84). Synonyme sind „orofaziale Dysfunktionen, orofaziale Dyskinesien, mundmotorische Störungen, engl. Myofunctional disorders, orofacial disorders” (LexSprach 2007, S. 206) oder auch „dyskinesia” (Hahn, in: Grohnfeldt 2 2001, S. 317). Anita Kittel (1990, S. 106) zählt auf, welche Störungen auftreten können, wenn das myofunktionelle Gleichgewicht im Mund- und Gesichtsbereich gestört ist: Es kann zu Artikulationsstörungen kommen, wie z. B. multipler Interdentalität bzw. Addentalität, Sigmatismus/Schetismus lateralis. Es kann gleichzeitig auch der physiologisch korrekte Schluckablauf gestört sein, der seinerseits eine Fehlstellung der Zähne bewirken kann sowie Deformationen im Kieferbereich, Spannungen und sogar Schmerzen im Gesicht, Beschwerden in einem oder beiden Kiefergelenken und Missempfindungen im Mundraum. Weiters kann das sogenannte Globusgefühl auftreten (darunter wird ein Druckgefühl am Kehlkopf während des Schluckens oder in Ruhe verstanden, obwohl es keinen organischen Schaden gibt), es kann zu Beschwerden im Verdauungstrakt kommen und es erfolgt eventuell ein verzögerter Zahnwechsel.
Ist der Musculus orbicularis oris zu schwach, dann stehen die Lippen meist offen, sowohl in Ruhe als auch beim Essen. Es kann sogar sein, dass die oberen Schneidezähne auf der Unterlippe ruhen. Durch das ständige Offenlassen der Lippen kann sich die Oberlippe verkürzen. Darüber hinaus kann sich die Unterlippe verdicken und vorwölben. Einige Personen haben eine so schwache Unterlippe, dass sich diese so weit nach vorne wölbt, dass sogar der Speichelansatz zu sehen ist. Dennoch bewirkt das Offenstehen der Lippen ein Gefühl der Trockenheit, sodass die Lippen ständig befeuchtet werden müssen und der nach außen dringende Speichel zurückgeholt werden muss. Beim Schlucken können schwache Lippen entweder offen stehenbleiben oder sie werden sehr stark aufeinander gepresst. Beim sehr starken Aneinanderpressen wird der Kinnmuskel/Musculus mentalis hochgezogen, um die verkürzte Oberlippe auszugleichen, sodass das sogenannte „Nadelkissenkinn” entsteht (Kittel 1990, S. 110). Teilweise kann es zum Grimassieren beim Schlucken kommen; das Ungleichgewicht der Muskeln kann zu vermehrtem Speichelfluss, zu Kiefergelenkspathologien führen, zu frühzeitigem Zahnverlust, zu Dysgnathien, Veränderungen am Zahnfleisch und am Zahnhalteapparat, zum Wangenbeißen oder Wangensaugen u.s.w. (Deinhofer 1997, S. 28). Diese angeführten Störungen betreffen jedoch nicht nur den Gesichts-, Mund- und Kieferbereich, sondern haben Auswirkungen auf die gesamte Person.
Was kann die myofunktionelle Therapie dagegen tun? „Die Myofunktionelle Therapie ist eine Behandlungsmethode, die im orofazialen Bereich (Gesicht, Mund, Hals) schädliche Gewohnheiten abstellen, ungünstige Bewegungsmuster umstellen und Fehlentwicklungen vorbeugen möchte. Dazu werden ausschließlich funktionelle, keine mechanischen Kräfte eingesetzt, sei es durch gezielte Muskelübungen oder durch unbewußte Stimulierung. (Nach)entwickelt werden wechselseitig die Sensibilität einschließlich der Stereognosie, und die Motorik zur Verbesserung der primären und sekundären orofazialen Funktionen wie Kauen, Schlucken, Atmen sowie Sprechen, Haltung und Mimik” (Hahn, Hermann, MFT-Mitteilungen, Nr 2, 1989, zitiert in Deinhofer 1997, S. 5). Diese sehr enge Sicht, beschränkt auf den orofazialen Bereich, sollte auf den Gesamtkörper übertragen werden, sodass unter „Myofunktionstherapie im weitesten Sinne […] ein Training von Muskeln im gesamten Organismus [zu verstehen ist]” (Thiele 1 1992, S. 1). Da es in der vorliegenden Masterarbeit an der MuWi Wien hauptsächlich um den Musculus orbicularis oris geht, wird der eingeschränkte Blick auf den orofazialen Bereich beibehalten, aber die Auswirkungen auf den gesamten Körper nicht vergessen.